"Nachtcafé" (1912) von Gottfried Benn - Gedicht und Interpretation

824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-moll: die 35. Sonate
Zwei Augen brüllen auf:
Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! -

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
Kaum Duft.
Es ist nur eine süße Verwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.

In dem expressionistischen Gedicht „Nachtcafé“ aus dem Jahre 1912, verfasst von Gottfried Benn, beschreibt dieser das Treiben der Gesellschaft in eben dieser Kulisse.
Zuerst gebraucht er Instrumente zur näheren Beschreibung seiner Wahrnehmung, danach geht er zu konkreten negativ ausgeprägten menschlichen Äußerlichkeiten über und beschreibt das Verhalten vier unterschiedlicher Paare. Erst in der vorletzten Strophe scheint sich sein Gemüt kurzzeitig aufzuhellen und positiv zu äußern, was jedoch durch die letzte Strophe schnell wieder ins Gegenteil umschlägt und widerlegt wird.

Das Gedicht ist in neun unterschiedlich aufgebauten Strophen verfasst, welche einen bis fünf Verse enthalten. Zudem ist kein ersichtliches Metrum vorhanden, jedoch eine gebräuchliche Interpunktion.
Die Syntax variiert von normalen Aussagesätzen (s. Strophe 1) bis hin zu mehreren Ellipsen, welche vor allem in der vorletzten Strophe ihren Niederschlag finden (V.19 – 21 „Ein Weib.“, „Wüste ausgedörrt.“, „Keusch.“, „Kaum Duft.“) und wie eine Aufzählung bzw. Klimax wirken. Auch sind einige Enjambements vorhanden (V.5 „Pickel im Gesicht winkt...“, V.7 „Fett im Haar spricht zu offenem Mund...“).
In der ersten Strophe handelt es sich bei den Zeilen 2 – 3 um einen Parallelismus, in welchem personifizierte Instrumente beschrieben werden, die für menschliche Persönlichkeiten bzw. menschliches Aussehen stehen könnten.
Daneben gibt es in Strophe 2 eine Aufzählung (V.5 „Grüne Zähne, Pickel im Gesicht...“), welche die vielseitige Hässlichkeit verdeutlich. In der 7. kommt es zu der einzigen Aufforderungen des Lyrischen Ich (V.16 – 18 „Spritzt nicht das Blut...“, „Schluß! He, Gigi!“), welches sonst eher beschreibende Funktion hat.
Auffällig sind ebenfalls die Einleitungen der ersten und sechsten Strophe durch Sonaten klassischer Musikstücke von Schuhmann sowie Chopin (V.1 „824: Der Frauen Liebe und Leben.“ + V.14 „B-moll: die 35. Sonate.“). Das Lyrische Ich scheint ein gewisses Kunstverständnis zu besitzen.
Provozierend wirkt der scharfe Gebrauch von Synekdochen (Einzelaspekt wird stellvertretend für einen größeren Zusammenhang genannt, „Teil eines Ganzen“) (V.10 „Junger Kropf“, V.12 „Bartflechte“), welche für den Menschen stehen und ihn sozusagen ersetzen.
Das Wortfeld umfasst überwiegend medizinische Begriffe, die sich auf das negative Erscheinungsbild der Menschen beziehen (V.5 „Grüne Zähne“, V.8 „offener Mund mit Rachenmandel“, V.13 „Doppelkinn“).

Das Lyrische Ich, welches eher beobachtenden Charakter hat, schaudert vor dem Verfall der Gesellschaft, was es durch die abstoßende und Ekel erregende Beschreibung des Äußeren der Menschen verdeutlicht. Es fixiert sich auf die hässlichen Merkmale, was lediglich in der achten Strophe durch das Erscheinen einer Frau ein kurzweiliges Ende findet. Nun scheint auch der Sprecher benebelt und seinem Trieb nachzugehen. Jedoch wird die positive Wahrnehmung widerlegt, da diese herausstechende Frau von einem gewöhnlichen und vom Verfall gekennzeichneten Mann (V.24 „Die Fettleibigkeit...“) begleitet wird bzw. dieser ihr „hinterhertrippelt.“
Auch rührt sich das Lyrische Ich nur aktiv in der siebten Strophe, in welcher es seine Gesellschaft als Kunstbanausen und „Pack“ (V.17) bezeichnet und sie auffordert, die Musik von Chopin nicht in dieser unwürdigen Kulisse mit ihren unwürdigen Darstellern spielen zu lassen und zu missbrauchen. Seine „Augen brüllen“ (V.15) beim Anblick dieser Vergewaltigung, es grenzt sich von den übrigen Cafébesuchern ab und scheint keine Chance gegen diese Entwicklungen zu haben.

Das Körperliche und der Sexualtrieb werden hier von Gottfried Benn in den Vordergrund gestellt. Die Personen werden auf ihr Äußeres reduziert, welches abschreckend wirkt.
Die häufig gebrauchten medizinischen Ausdrücke haben möglicherweise etwas mit dem Beruf des Pathologen zu tun, welchem Benn aus gesundheitlichen Gründen ab 1912 nachgehen musste.
Benn beschreibt und kritisiert daneben die Aktionen, welche die Menschen ausführen, um ihrem Partner, welcher ebenso deformiert ist, zu gefallen (Strophe „2 – 4).
Diese Deformierung scheint sich nicht nur auf das Körperliche, sondern auch auf das Moralische zu beziehen, da die Menschen keinen Sinn mehr für Kunst zu haben scheinen, für welche hier die Sonaten von Schuhmann und Chopin stehen.
Das Unverständnis könnte auch mit dem Unverständnis für die Lyrik bzw. Dichtkunst einhergehen, da dieses Gedicht zur Zeit der Sprachskepsis entstand.
Der Autor, welchen das Lyrische Ich darstellt, das sich fremd zu fühlen scheint, sieht das Café als Vergnügungsstätte und nicht als Ort intellektueller Konversationen. Er ist entsetzt über die Hässlichkeit des Menschen und den Individualitätsverlust – physisch und moralisch – und sieht mit dem Verfall der Menschen auch den Verfall der Sprache näher rücken.

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